Der Stradivari-Effekt

Sei gut zu ihr! Dann wird sie IMMER BESSER. Was für erlesene Musikinstrumente gilt, müsste doch auch auf außergewöhnliche Motorräder zutreffen. Wir haben's ausprobiert

Ein Mysterium: Seit Urzeiten zermartern sich Experten die Hirnwindungen: Warum nur klingen die rund 500 bis heute erhaltenen Instrumente aus der berühmten Cremoneser Geigen-Dynastie so überirdisch? Jeder Geigenvirtuose von Rang ist begierig, eines der raren Musikinstrumente in Händen zu halten. Damit er endlich ertönt, dieser gewisse Klang, der dem Künstler seit geraumer Zeit im Kopf herumspukt. Wissenschaftler versuchten und versuchen nach wie vor, das Stradivari-Phänomen zu ergründen. Man tippte in der Vergangenheit auf ausgebuffte handwerkliche Tricks, auf spezielle Lacke und Essenzen oder auf die Umweltbedingungen. Schließlich konnten die Hölzer bei Entstehung der Geigen im 18. Jahrhundert noch frei von saurem Regen und sonstigen Luftverschmutzungen heranwachsen. Heutige Geigenbauer scheuten keinen Aufwand, die alten Herstellungsverfahren zu imitieren. Alles ohne Erfolg.

Inzwischen jedoch mehren sich andere Expertenstimmen. Sie haben eine verblüffend einfache Erklärung für den Wunderklang der Stradivaris zur Hand. Sie sagen: Diese Geigen waren schon immer besonders hochwertig gefertigte, sprich teure Musikinstrumente. Folglich wurden sie über die Jahrhunderte immer von erstklassigen Musikern bespielt. Und genau darin liegt das Geheimnis für den außergewöhnlichen Klang. Keine schrägen Misstöne, keine lieblose Behandlung durch unbegabte Dilettanten. Nur gepflegtes Können und Wohlklang. Deshalb, auch das sei logisch, tönten die Stradivaris auch nicht vollkommen gleich. Jedes Instrument habe entsprechend seiner "Geigenbiografie" bestimmte Klangcharakteristika. Hört sich einleuchtend an.

Sie werden jetzt fragen, was das alles bitteschön mit Harley- Davidson zu tun hat. Abgesehen davon, dass so eine Fiedel noch rarer ist als eine Knucklehead im top gepflegten Originalzustand. Okay, dann will ich die Geschichte einmal von der anderen Seite aus erzählen. Früher, als Aids noch nicht erfunden war, da galt unter Motorradfahrern ein beinahe ehernes Gesetz: "Drei Dinge verleiht Mann nie - Motorrad, Zahnbürste und die Frau." Um den Spruch 'mal in der ganz machomäßigen Reihenfolge zu bringen. Wer's dennoch gemacht hat, das mit dem Motorradverleihen, der wurde anschließend meistens von schweren Zweifeln heimgesucht. Denn nach der vermaledeiten Verleihaktion lief das gute Stück nicht mehr wie gekannt. Das Getriebe schaltete sich nicht mehr so geschmeidig wie zuvor, und auf eine merkwürdige Art und Weise rollte das Motorrad über Bodenwellen eine Spur bockiger, als man es in seinem durchaus subjektiv tickenden Hinterstübchen abgespeichert hatte. Kennen Sie das? Stimmt's?

Ein Onkel, der Tuba im Musikverein spielte, ließ uns Kinder nie an sein Instrument. Er meinte dann immer, dadurch würde das Instrument "verblasen." Sollte wohl heißen; Dann klingt's womöglich nicht mehr so sauber wie gewohnt. Diese Episode aus der Kindheit fiel mir kürzlich wieder ein, als sich die Idee vom ebenso für Motorräder geltenden Stradivari-Phänomen langsam aber sicher breitmachte.

Begonnen hatte das Mystische vor rund zwei Jahren. Damals übernahm ich die BuellX1. Das Bike warüber 25000 Kilometer im Dauertestbetrieb bei Motorrad Magazin MO gelaufen. Eine typische Redaktionshure, jeder wollte 'mal drüber, über den schräg-scharfen Ami-Hobel. Das Ding hatte ein wahrhaft anstrengendes Redaktionsleben hinter sich. Rennstreckentrainings, Winterbetrieb durchs Streusalz, Urlaubsfahrten, kurze Besorgungstrips in der Stadt. Und nicht jeder schaute immer brav nach dem Ölstand. Und genau so fuhr sich das Motorrad. Klapprig, heruntergekommen, dann und wann plagten Aussetzer den Motor. Damals bin ich nur Kurzstrecke mit der Buell gefahren. Das gute Stück fühlte sich an, als wolle es jeden Moment den Schirm zumachen. Das weckte den Beschützerinstinkt.

Ein gut gemeinter Rundumcheck war die Folge. Hier ein Ölwechsel, da sorgsam mit Fetteinstrich montierte Radachsen, dort neue Dichtungen für die Köpfe. Kaltstart immer mit eingelegtem Gang, damit man sich und der Mechanik das hässlich laute Einrastschlagen erspart.

So langsam begann sich die Buell bei mir wohl zu fühlen. Dann folgten noch ein paar Reifenexperimente und nach einem Jahr war klar; Die geb' ich nicht mehr her. Wir hatten uns in Harmonie gefunden. Das Fahrverhalten ist inzwischen traumhaft. Die alte Sturheit in engen Kurven ist verschwunden, sie fühlt sich beim Rollen auf fantastische Weise in sich gespannt und exakt an. Die Reifen erscheinen haftfreudig, als seien sie aufmagnetisiert, die Rückmeldung ist großartig. Bei 140 km/h reiße ich kurz den Lenker an und gebe einen kräftigen Impuls zum Einlenken. Die Buell scließt in Schräglage und hält den Winkel auf den Punkt genau. Nichts zu spüren von Schwammigkeit oder Lenkernachschwingen.Perfekt. Und ich schwöre, in der ganzen Zeit habe ich nicht ein einziges Mal an einem Fahrwerksschräubchen gedreht.

Natürlich können Sie jetzt sagen: Der macht sich doch selbst 'was vor. Der Verdacht liegt nahe, und weil kürzlich eine neue Buell XB 12R, quasi das moderne Nachfolgemodell, im Hof stand, machte ich die Gegenprobe. Die XB war sogar mit Michelin Pilot Power-Superklebern bereift. Keine Frage, die XB 12 R lag damit sehr anständig, stellte beim Bremsen so gut wie nicht auf und rollte schön komfortabel. Aber das war nicht das gleiche satte Einrast-Gefühl, das ich von der X1 her kannte. Bei schneller Fahrt wurde die Vorderpartie spürbar nervös, andererseits brauchte die XB unverhältnismäßig viel Kraft zum Einlenken. Und die Rückmeldung von den an sich großartigen Reifen her war eine ganze Ecke weniger durchsichtig als bei der X1. Nach einem Tag habe ich die XB gerne wieder gegen die "alte" X1 getauscht. Auch wenn der Motor der XB ganz klar flüssiger, punchiger und weicher läuft als das durchaus etwas ruppige Aggregat der X1.

Jedenfalls ist klar, den Eindrücken aus dem X1-Sattel liegt keine Selbstsuggestion zugrunde. Sicher, Sie werden jetzt wie ich nach einer physikalisch fassbaren Erklärung für das Phänomen suchen. Ein Versuch wäre, sich etwas zusammenzureimen. Etwa in der Art von "positive Schwingungen haben das Material harmonisiert" lässt sich der Stradivari-Effekt aus Stahl, Leichtmetall und Gummi übertragen? Zugegeben, das klingt sehr nach okkult verschwurbeltem Hokuspokus. Aber vielleicht fährt wegen der gekonnt zelebrierten Schwingungen auch Valentino Rossis Werksrenner besonders gut - eine Spur besser, als das technisch identische Motorrad seines Markenkollegen.

Schlage vor, Sie probieren das jetzt einfach mit Ihrem Motorrad aus. Etwa ein Jahr sollten Sie sich dazu Zeit lassen. Mit feiner Hand angasen, gepflegt umlegen, flüssig schalten, schöne Schwingungen ins Material hineinfahren. Es funktioniert! Irgendwie...

Text: JO SOPPA, aus MO-Sonderheft Harley Davidson 2004